Charakteristika
- gehören zu den erzählenden Quellen, genauer: den historiographischen Quellen,
- gelten als Art Weiterentwicklung der Annalen (mit denen sie einiges gemein haben), besitzen aber auch eigenständige Ursprünge,
- sind meist zusammenhängend von einem Autor (oder mehreren Autoren nacheinander) verfaßt,
- bieten nicht nur Fakten, sondern versuchen, deren Zusammenhänge zu erklären,
- legen Wert auf sprachliche Gestaltung,
- behalten zwar oft das annalistische Schema (Organisation nach Jahreseinträgen) bei; viele Chroniken sind jedoch auch stattdessen in „Bücher´´ und „Kapitel´´ eingeteilt und manchmal sogar mit einem Inhaltsverzeichnis versehen.
Wichtig zu beachten: Chroniken sind häufig Auftragswerke, die mit bestimmten (und oft bestimmbaren) Absichten verfasst wurden.
Der formale Begriff „Chronik“ steht (als Sammelbegriff) tatsächlich für eine Vielzahl inhaltlicher Typen. „
Goetz 2006, Proseminar Geschichte: Mittelalter, 111
Inhaltliche Gliederung von Chroniken
- nach dem Gegenstand (z.B. in Reichsgeschichte und Kirchengeschichte)
- nach einer Institution (z.B. Hof-, Bistums-, Kloster-, Stadtchronistik)
- nach dem Berichtshorizont (Welt-, Reichs-, Regional-, Lokalchronik)
Weltchroniken
- auch Universalchroniken
- ausgreifender Berichtszeitraum: Versuch die gesamte Geschichte von den Anfängen (d.h. von Schöpfung, Adam u. Eva oder Christi Geburt) bis zur Gegenwart erfassen
- umfassender Inhalt: Behandeln sowohl Kirchen- wie Reichsgeschichte
- räumlicher Horizont: Beginnen zwar meist sehr weit (beschreiben „Menschheitsgeschichte´´, sind hier aber auf andere Quellen angewiesen), schrumpfen aber im zeitgenössischen Teil meist zu Reichschroniken; einige enden gar recht kleinteilig (oft vor der Haustür des Verfassers)
- heilsgeschichtliche Ausrichtung: Menschliche Geschichte wird als Geschehen im göttlichen Heilsplan verstanden.
Hier setzt der für den Historiker wichtige Umstand an, daß viele Weltchroniken die Geschichte zu ordnen versuchen, indem sie auf meist biblisch motivierte, im Mittelalter bedeutsame Systeme der Epocheneinteilung zurückgreifen, z.B.:
- die sechs Weltalter (nach den sechs Schöpfungstagen zu je 1000 Jahren oder nach den sechs menschlichen Lebensaltern)
- die vier Weltreiche (nach dem Buch Daniel): Babylonier, Perser, Griechen, Römer [wichtig für das lateinische Kaisertum, Stichwort: Translatio imperii]
Beispiele wichtiger (Welt-)Chroniken:
- Weltchronik des Eusebius von Cäsarea (bis 325), von Kirchenvater Hieronymus ins Lateinische übersetzt und bis 378 weitergeführt
- Weltchronik des Beda Venerabilis (gest. 735)
- Weltchronik des Regino von Prüm (gest. 915)
- Otto von Freising (gest. 1158), Chronica sive historia de duabus civitatibus („Geschichte der zwei Reiche´´ oder auch „Weltchronik des O. v. F.´´)
Weitere wichtige Typen von Chroniken:
Reichschroniken |
Übergänge zu Weltchroniken oft fließendDarstellung von Reichsgeschichte als Königsgeschichte oder Geschichte königlicher Dynastien |
Volkschroniken: origines gentium |
erst in Zeiten eigenständiger (d.h. meist königlicher) Herrschaft verfaßtverfolgen Geschichte des „Volkes´´ (gens) bis zu den Ursprüngen (origines) zurück (= origines gentium) |
Bistums- und Klosterchroniken |
stark verbreitetauf regionaler Ebene zu verortenBistumschroniken am Bistum und seinen Bischöfen, Klosterchroniken am Kloster und seinen Äbten orientiert (bei letzteren wichtig: der Gründungsbericht/fundatio) |
Genealogien |
interessieren sich für Familien und AbstammungsverhältnisseVorbild: Bericht zu biblischen Urgeschlechtern (Genesis)Kataloge oder Stammbäume, oft auch in bildlicher Formselbständig oder als Teil anderer Quellen (v.a. Chroniken) |
Hauschroniken |
durch Erweiterung der Abstammungslisten um die Taten von Familienangehörigen ausgestaltetin enger Verbindung zur Entstehung der Territorialstaaten, da meist für fürstliche Familien entstandenüberliefern meist Familen- und Landesgeschichte |
Landeschroniken |
erst im Spätmittelalter entstandeneng angelehnt an Territorialherrschaftenstark an Dynastie der Landesherren angelehnt (vgl. Reichschroniken)Übergang zu Hauschroniken fließend |
Stadtchroniken |
stark verbreitetin Italien im Hoch-, sonst erst im Spätmittelalter aufkommendsehr unterschiedlich ausgestaltetAusdruck städtisch-bürgerlichen Selbstbewußtseinsbinden Stadtgeschichte gerne in Weltgeschichte ein (Typ der „städtischen Weltchronik´´)Frühformen an Bistumschroniken angelehntoffiziöser Charakter: Chronisten meist Stadtschreiber oder Ratsherren, private Stadtchroniken seltener |
Kriegs- und Kreuzzugschroniken |
thematischer Sammelbegriff für unterschiedlich ausgestaltete Chronikenmanche legen nur Ausschnitte aus Reichsgeschichte vor (könnten also genausogut als Kapitel in anderer Chronik stehen), andere wiederum sehr eigenständig gestaltetKreuzzugschroniken teilweise mit Elementen von Reiseberichten verfaßt |
Eine Besonderheit stellen die sog. Gesta dar. Dieser (im modernen Gebrauch eher formal zu verstehende) Begriff bezeichnet Chroniken einer Institution (z.B. Königtum, Bistum, Kloster), die im wesentlichen als Abfolge von Lebensbeschreibungen der einzelnen Amtsträger (Könige, Bischöfe, Äbte) ausgefertigt sind (lat. gesta = Taten).
Definition
Eine Urkunde ist ein in bestimmten Formen abgefasstes, beglaubigtes und daher verbindliches Schriftstück, das ein Rechtsgeschäft dokumentiert.
Goetz 2006, Proseminar Geschichte: Mittelalter, 135
Zum Verständnis mittelalterlicher Urkunden ist es wichtig zu wissen,
- dass ein mittelalterliches Rechtsgeschäft nicht unbedingt einer Urkunde bedurfte, um rechtskräftig zu sein – es konnte und wurde auch mündlich, unter Zeugen und in Durchführung ritualisierter, symbolischer Rechtshandlungen vollzogen
- dass viele mittelalterliche Urkunden derartig vollzogene Rechtsgeschäfte erst nachträglich bestätigten (dazu siehe auch unten: notitia vs. carta), ohne dass die eigene Rechtsgültigkeit und Beweiskraft darunter litten.
- dass die hohe Zahl überlieferter Urkunden auf eine hohe Wertschätzung und auf die Beweiskraft solcher Verschriftlichung von Rechtsgeschäften hinweist.
Aussagekraft
Urkunden geben nicht immer geltendes Recht wider, sondern unter Umständen auch nur Rechtsansprüche des Empfängers.
Sie können…
- bereits vorhandene Rechtsansprüche untermauern
- längst gewährte (u. evtl. beurkundete) Rechte bestätigen
Der den Urkunden (im Laufe des Mittelalters immer stärker) zukommende Beweischarakter führt zu einer ganzen Reihe mittelalterlicher Urkundenfälschungen.
- Achtung: Gefälschte Urkunden können aber auch ein „echtes“ Rechtsgeschäft bestätigen/beweisen wollen. Besondere Bedeutung kommt daher der Quellenkritik zu, die so zu einer eigenen historischen Hilfswissenschaft geworden ist, der Diplomatik.
- Einzelurkunden sind nur in Ausnahmefällen historisch aussagekräftig, erst größere, abgegrenzte Bestände (Urkundenserien) stellen solide Materialgrundlage für rechts-, verfassungs-, gesellschafts- oder wirtschaftshistorische Erkenntnisse dar.
Überlieferung
- entweder als Original oder als Abschrift/Kopie erhalten
- Rechtskraft besitzen auch beglaubigte Abschriften (Vidimus = vollständiger Text/Transsumpt = Wiedergabe des Inhalts in einer neuen Urkunde)
- Überlieferung als Einzelstücke (v.a. bei Originalen) oder in Sammlungen/Zusammenstellungen (meist als Abschriften):
- Register: Urkundenausgang eines bestimmten Ausstellers (meist nicht als „echte Kopie´´, sondern als Sammlung der Konzeptfassungen). Wichtig, insbesondere für die Frühzeit, sind die Papstregister; kgl. Register existieren erst ab dem 13. Jh. (Westeuropa) oder 14. Jh. (Deutschland).
- Kopiare (Kopialbücher, Chartulare): Urkundeneingang eines bestimmten Empfängers, also von versch. Ausstellern. Mittelalterliche Kopiare werden fast ausschließlich von kirchlichen Empfängern geführt; die meisten „Privaturkunden´´ (s.u.) sind nur so überliefert.
Edition
Drei typische Formen der Urkundenedition:
- nach dem Ausstellerprinzip (so v.a. bei Königs- und Papsturkunden)
- nach dem Empfängerprinzip
- meist gemischt, indem Ausgang u. Eingang einer Institution zusammen ediert werden
Fast alle Editionen sind strikt schematisch organisiert, so z.B. in der MGH:
- Benennung nach Aussteller u. laufender Nummer [D LJ 4 = Diplom Ludwigs des Jüngeren Nr. 4]
- sogen. Kopfregest mit Angabe von Aussteller, Empfänger, Ausstellungsort und -datum [in moderner Form] sowie kurzer Zusammenfassung des Rechtsinhalts
- Angaben zur Überlieferung von Handschriften und evtl. frühen Drucken
- Bemerkungen zur Urkundenkritik (Echtheit, Kanzleimäßigkeit, Notare)
- Text, evtl. mit Variantenapparat und Sachkommentar [s. auch Kritische Edition]
Klassifizierung
Unterscheidung nach dem Verhältnis zum Rechtsakt:
- Beweisurkunde (notitia): schriftliche Fixierung einer bereits erfolgten Rechtshandlung
- Verfügungsurkunde oder dispositive Urkunde (carta): setzt als solche erst Recht
Probleme: Unterschied ist äußerlich nicht erkennbar und hatte wohl im Mittelalter auch keinerlei Einfluß auf die Beweiskraft der Urkunde. Hier geht es also eher um das das Verständnis des Rechtsprinzips als um eine praktische und praktikable Einteilung.
Unterscheidung nach dem Zweck
- feierliches Diplom mit meist dispositivem Charakter (z.B. Verleihung von Privilegien, Schenkung von Besitz)
- schlichteres Mandat mit administrativem Inhalt (z.B. Anordnungen, Verfügungen)
Problem: Auch hier sind die Grenzen fließend, die Unterscheidung nicht praktikabel.
Unterscheidung nach dem Aussteller
- Königsurkunden: in der Regel Diplome in feierlicher Form, mit Verzierungen von erster und letzter Zeile, mit starken Ober- und Unterlängen in der Schrift, Signatur durch „Monogramm“ des Königs; für Details siehe Form und Aufbau einer Königsurkunde
- Papsturkunden: abgefaßt in kanzleitypischer Schrift; Stil wirkt vorbildhaft für andere Kanzleien; weitere Unterteilung möglich in:
- Privilegien entsprechen Diplomen und besitzen Anspruch auf dauerhafte Gültigkeit (sogen. in perpetuum-Formel); Signatur bis Mitte 11. Jh. mit eigenhändiger Unterschrift des Papstes, danach durch die „Rota´´ (radförmige Zeichnung)
- Briefe (litterae) entsprechen Mandaten, können seit 12. Jh. aber auch Rechtsverleihungen beurkunden; werden bald zur häufigsten päpstl. Urkundenform; Rota, Monogramm oder Unterschrift fehlen
- Bullen (genannt nach dem Bleisiegel), seit Mitte 13. Jh. verwendet, v.a. für Dekrete oder Exkommunikationen; in der Form zwischen Privileg und Brief
- Breven sind schmale Pergamentstreifen; seit Ende 14. Jh. gebraucht; kurzer Text mit rotem Wachssiegel („Fischerringsiegel“)
- „Privaturkunden„: irreführender Begriff, der alle übrigen Urkunden meint; diese besitzen natürlich auch amtlichen (und nicht „privaten“) Charakter; stammen v.a. von Bischöfen, Äbten/Äbtissinnen und Pröpsten, von Herzögen und Grafen, von Grundbesitzern aller Art, im späteren Mittelalter auch von Städten und anerkannten Notaren (sogen. Notariatsinstrumente)